– so war das initiierende Kolloquium für ein Projekt überschrieben, das 2018 im neuen Zentralgebäude der Leuphana Universität (Libeskind) seinen Anfang nahm. Ziel dieses Künste und Wissenschaften transdisziplinär zusammenführenden Projektes ist ein digitaler „Thesaurus literarischer Sprachfiguren und Bildbegriffe“, ein polydimensionales Universalmodell der sprachlichen Möglichkeitsräume der Kunst.
Teilnehmer/innen der ersten offenen Runde waren Nora Gomringer, Felicitas Hoppe, Noémi Kiss, Lilian Robl sowie Wolfgang Kemp (Kunstgeschichte), Yvonne Förster (Philosophie), Gerhard Lauer (Digital Humanities), Barbara Naumann (Literaturwissenschaft), Ruth Neubauer-Petzoldt (Literaturwissenschaft), Eveline Goodman-Thau (Jüdische Religions- und Geistesgeschichte), Achatz von Müller (Geschichte) und Ulrike Steierwald (Literaturwissenschaft). Die folgende audiovisuelle Dokumentation in 16 Teilen ist nicht nur eine Einführung in das Projekt, sondern auch eine vielstimmige Modulation des Bildbegriffs HERZ und seiner Figurationen, in deren dynamischen wie polyvalenten Bestimmungen sich bereits exemplarisch erste Realisierungsmöglichkeiten eines Thesaurus – d.h. eines „Schatzhauses“ – sämtlicher Figurationen und Bildbegriffe in deutscher Sprache abzeichnen.
Die Definitionen Europas in ihrer Relation zum Begriff der Migration sind von voraussetzungsvollen historischen wie aktuellen Identitätskonstruktionen abhängig. Die Bestimmungen des „Eigenen“ und „Fremden“ durch räumliche Grenzziehungen prägen zu Beginn des 21. Jahrhunderts weniger nationale Konzepte, sie sind vielmehr in den diversen Argumentationsmustern des Europa-Diskurses virulent. In den sich auffällig lokal bzw. regional formierenden Protestbewegungen gegen Migration wie Globalisierung spielt die dezidiert gegen “außereuropäische Kulturen“ gerichtete Aggression eine zentrale Rolle. Aber auch in der Grenzsicherung der Europäischen Union und in der Verurteilung islamistischer Terroranschläge und Gewalt wurde und wird auf eine „kulturelle“ europäische Identität im Sinne universalistisch wirksamer Wertsetzungen der europäischen Aufklärung – Demokratie, Toleranz, Selbstbestimmung, Ökonomie – rekurriert. Diese sind weiterhin auf ein räumlich verankertes Selbstverständnis angewiesen.
Angesichts der aktuellen Offenlegung einer mangelnden Einheit und Identität Europas brechen nur scheinbar Konnex und Verankerung des Wiedererkennbaren und Identischen in nationalen, regionalen wie auch kontinentalen Kollektivierungsmustern zusammen. Der hegemoniale Gestus der Selbst-Ermächtigung und Selbst-Bestätigung gegen die aus dem „außereuropäischen“ Raum Fliehenden legitimiert sich zunehmend über den Kultur-Begriff selbst – eine Entwicklung, zu der sich die nach ihm benennenden (Kultur-)Wissenschaften verhalten müssen. Während „Europa“ in seiner affirmativen, identitätsstiftenden Zuschreibung wieder an Wert verliert, wird der Kultur-Begriff im aktuellen politischen Diskurs präsenter. Dabei geht es jedoch weiterhin um räumliche Verankerungen der jeweiligen Identifikation, sei es in Sprache, Kollektivierung, Erinnerung oder emotionaler Bindung.
Migration und Europa in kulturwissenschaftlicher Perspektive
Zweite Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KWG)
6. bis 8. Oktober 2016 an der Universität Vechta
Panel: Übersetzte Figurationen. Räumliche Entwürfe europäischer „Kultur“ (Leitung: Ulrike Steierwald)
Siehe auch: Transiträume der Flucht auf www.literaturkritik.de
und
Ulrike Steierwald, « Europa – Heimat als Groteske », Germanica [En ligne], 56 | 2015, mis en ligne le 30 septembre 2017, consulté le 24 août 2019. URL : http://journals.openedition.org/germanica/2903
JOHANN GEORG KEYSSLERS NEUESTE REISEN (1740)
„Ehe der Rhein zu seinem sehr steilen Schuß kommt, ragen hin und wieder viele Felsen aus dem Grunde hervor. Beym Falle selbst theilt er sich in drey Flüsse, welche durch ihren grünen Grund und ihr schneeweißes Strudeln dem Zuschauer eine angenehme Augenweide, hingegen durch das Brausen seinem Gemühte sowol Bewunderung als Entsetzen verursachen.“ – Nein, diese Passage über den Rheinfall bei Schaffhausen ist kein Ausschnitt aus Wilhelm Heinses vielzitierter Beschreibung in seinem Reisetagebuch von 1780, sondern entwirft eine theatrale Szenerie aus den vierzig Jahre zuvor erschienenen Neuesten Reisen von Johann Georg Keyßler. Diese im 18. Jahrhundert meist rezipierte Reisebeschreibung „durch Deutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen“ entspricht nicht den durch die Literaturwissenschaft konstruierten gattungspoetologischen Standards. Literaturgeschichtlich werden Anschaulichkeit und narrative Vergegenwärtigungen von Rekonstruktionen reisend erfahrener Räume erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verortet. Die seit der Jahrhundertmitte expandierende, umfangreiche Reiseliteratur-Produktion im Geiste der bürgerlichen Bildungsreise verführte dazu, das frühe 18. Jahrhundert und damit die Entstehungszeit der Keyßlerschen Reisen gattungspoetisch als „Vorgeschichte“ des literarisierten Reisens im engeren Sinne und damit auch den Text als nicht literarisch zu betrachten. Als Lehrer und Begleiter auf der aristokratischen Grand Tour vollzieht Keyßler zwar keine „literarische Reise“ im Sinne der bürgerlichen Individuation des Bildungsromans. Aber wie in keinem anderen Bericht dieser Zeit kann hier das vom Modus des Reisens ausgehende Denken der Erzählung, des Entwurfs, der räumlichen Bewegung nachvollzogen werden, das erst viel später – an der vielbeschriebenen Epochenschwelle um 1800 – zum Konstrukt sinnlicher, individueller Erfahrung werden wird.
Ulrike Steierwald:
Bewegte Betrachtung. Zur Literarisierung des Reisens. Vortrag auf dem 25. Germanistentag 2016, 25.-28. September 2016, Bayreuth / Panel: Erfahren, erspüren, empfinden: Techniken der sensuellen Vergegenwärtigung in der Reiseliteratur.
Erschienen in:
Keyßlers Welt. Europa auf Grand Tour, hrsg. von Achatz von Müller, u.a.. Göttingen: Wallstein 2018, S. 229-254.
Vortrag auf der Tagung „Bewegende Körper – Bodies in Motion“
3. Jahrestagung der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft
Veröffentlichung:
Against Metaphor – Against Interpretation: Widerständige Sprachfiguren der Verkörperung. In:Literatur in der Medienkonkurrenz: Medientranspositionen 1800 -1900 – 2000. Dörr, V. & Goebel, R. J. (Hrsg.). Bielefeld: Aisthesis Verlag 2018
Widerständige Körper
Die Private Sammlung:
Zeitgenössische Literatur zwischen Kontextualisierung und Vereinzelung
Walter Benjamins Reflexion „Ich packe meine Bibliothek aus“ beschreibt nicht nur die jeder Sammlung eigene Dialektik der Selektion und Zusammenfügung von Texten, sondern – in Analogie – auch das Wechselspiel von Vereinzelung und Kontextualisierung im Gestus des Schreibens selbst. Im Moment des Auspackens, in dem sich die private, zusammengefügte Ordnung der Bibliothek im paradoxen Zustand eines Umzugs, einer Reise oder des Exils –jedenfalls im Modus der Mobilität und des Vorläufigen befindet – manifestieren sich an der in einem neuen Kontext wahrgenommenen Materialität der Bücher auch neu reflektierte und erzählte Erinnerungen und Geschichten. Dabei schafft der private Raum, der trotz Mobilität und Vorläufigkeit durch die Erinnerung an die Aneignungsgeschichten der Bücher entsteht, eine andere gedankliche Ordnung, in der ein eigenes Sprechen und Schreiben beginnen kann.
Der Vortrag analysierte Mobilität und Virtualisierung als Konditionierungen und Gelingensbedingungen der zeitgenössischen Literatur. Sie stehen nur scheinbar im Gegensatz zum Raum der Sammlung in deren Materialität, sondern machen vielmehr die in Benjamins „Ich packe meine Bibliothek aus“ sichtbar werdende Dialektik von Kontextualisierung und Kontextflucht – Öffentlichkeit und Vereinzelung – deutlich. Es zeigt sich, dass auch in den Schreibverfahren der Gegenwart die Spannung zwischen intertextuellen Verweisungen im Sinne der Sammlung und einer ubiquitären Ästhetisierung der Lebenswelten offen bleibt.
Ort / Zeit: Autorschaft und Bibliothek: Sammlungsstrategien und Schreibverfahren, Internationale Tagung, Klassik Stiftung Weimar, 8. bis 10. November 2016 Mehr >>
HERTA MÜLLERS POETOLOGIE DER BILDLICHKEIT IM SPANNUNGSVERHÄLTNIS VON ÄSTHETIK UND POLITISIERUNG
Tagung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 11. – 13. Februar 2015 im Kloster Bronnbach
Wie positionieren sich Herta Müllers literarische Texte, die von einer stupenden Bildlichkeit und nach ihrer eigenen Poetologie „vom Schweigen“ gelernt sind, im zeitgenössischen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs? Warum steht eine Autorin, die sich explizit nicht als öffentliche Person sehen möchte und ihre Literatur als „erfundene Wahrnehmung“ bezeichnet, immer wieder im Zentrum des öffentlichen Redens und Schreibens über die komplexe Relation von Ästhetik und Politik? Mein Vortrag analysiert Beispiele, die die aus dieser Widersprüchlichkeit resultierende Schwierigkeit einer Positionierung aufzeigen (Nobelpreisverleihung 2009, Podiumsgespräch mit Ai Weiwei auf der lit.Cologne 2010, Podiumsgespräch „Wie viel moralischen und politischen Kredit hat die Literatur zu vergeben?“ DLA Marbach 2011 u.a.). Herta Müllers literarische Texte wie auch ihre Poetologie oszillieren im Spannungsverhältnis von Inszenierung und Dekonstruktion. Ihre Skepsis gegenüber den politischen Implikationen des literarischen Diskurses wehrt sich gegen die Mechanismen des Funktionierens, des in den Dienst Nehmens der Sprache. Mit dieser Ästhetik erfüllt Herta Müllers Literatur nicht nur die seit mehr als zwei Jahrzehnten virulenten literaturtheoretischen Paradigmen einer Poetologie der Körper und Bilder, sie trifft sich hierin auch mit anderen Autorinnen und Autoren der Gegenwart. Mein Vortrag zeigt, dass Müllers Texte einerseits die Ambivalenz der Sprache umkreisen, andererseits – sobald sie in die mediale Öffentlichkeit eintreten – selbst auf einem schmalen Grat ausgesetzt sind, der zwischen Relevanz und Vereinnahmung, Inszenierung und Funktionalisierung, Individuation und Dekonstruktion verläuft. Insofern entsprechen sie einerseits heutigen Wertungskriterien der Literaturwissenschaft und Kulturtheorie, verweigern sich aber andererseits immer wieder einer Systemkonformität und damit Positionierung. >> Veröffentlicht
TANDEM: LITERATURWISSENSCHAFT UND WISSENSSOZIOLOGIE
Interdisziplinäre Tagung, Hannover, Schloss Herrenhausen, 2015
Während sich eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Philologie seit längerer Zeit den produktions- und rezeptionsästhetischen Implikationen des Bewusstseins und seiner sprachlichen Projektionen zugewandt hat, fokussiert komplementär die Wissenssoziologie die sprachlich-symbolische Verfasstheit von Kultur und Gesellschaft. Der Vortrag beleuchtet aus dieser zweifachen Perspektive zeitgenössische ästhetische und alltagskulturelle Produktions- und Lesarten am Beispiel der gesellschaftlichen Diskurse „Bildung“ und „Nachhaltigkeit“. Ihre Kernkonzepte werden als zu analysierende und zu deutende Imaginationen aufgefasst.
Die bisherige Zurückhaltung der Philologien gegenüber den aktuell so wirkungsmächtigen Sozialisationsinstanzen der Bildungs- und Nachhaltigkeitsdiskurse liegt weniger daran, dass sie Alltagskulturen repräsentieren, sondern dass sie explizit bzw. sehr offensichtlich von gesellschaftlich-normativen Vorgaben geprägt sind, die die Gefahr bergen, den wissenschaftlichen Blick selbst unter Ideologieverdacht geraten zu lassen. Wirkungsmächtig sind beispielsweise für die „Nachhaltigkeit“ das Dispositiv der Bewahrung, für die „Bildung“ das der Entwicklung, also zwei auch mit gegenwärtigen politischen und ökonomischen Diskursen eng verschränkte Normalismen. Eine Philologie, die zumindest auch auf Relevanz in der zeitgenössischen Kultur zielt, kann dort ansetzen und sich bei ihrer Analyse auf eine erneuerte, produktions- und rezeptionsästhetisch ausgerichtete Methodologie des Verstehens stützen. Im Bewusstsein für die implizit immer schon wirksamen normativen Dispositive – auch der eigenen Wissenschaft – könnte so in der Entwicklung aktuell relevanter Fragestellungen auch eine Vermittlungsfunktion für unterschiedliche kulturwissenschaftliche Disziplinen eigenommen werden. Mehr
Kontakt
Prof. Dr. Ulrike Steierwald
Leuphana Universität Lüneburg
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