Philologie und normativer Diskurs
TANDEM: LITERATURWISSENSCHAFT UND WISSENSSOZIOLOGIE
Interdisziplinäre Tagung, Hannover, Schloss Herrenhausen, 2015
Während sich eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Philologie seit längerer Zeit den produktions- und rezeptionsästhetischen Implikationen des Bewusstseins und seiner sprachlichen Projektionen zugewandt hat, fokussiert komplementär die Wissenssoziologie die sprachlich-symbolische Verfasstheit von Kultur und Gesellschaft. Der Vortrag beleuchtet aus dieser zweifachen Perspektive zeitgenössische ästhetische und alltagskulturelle Produktions- und Lesarten am Beispiel der gesellschaftlichen Diskurse „Bildung“ und „Nachhaltigkeit“. Ihre Kernkonzepte werden als zu analysierende und zu deutende Imaginationen aufgefasst.
Die bisherige Zurückhaltung der Philologien gegenüber den aktuell so wirkungsmächtigen Sozialisationsinstanzen der Bildungs- und Nachhaltigkeitsdiskurse liegt weniger daran, dass sie Alltagskulturen repräsentieren, sondern dass sie explizit bzw. sehr offensichtlich von gesellschaftlich-normativen Vorgaben geprägt sind, die die Gefahr bergen, den wissenschaftlichen Blick selbst unter Ideologieverdacht geraten zu lassen. Wirkungsmächtig sind beispielsweise für die „Nachhaltigkeit“ das Dispositiv der Bewahrung, für die „Bildung“ das der Entwicklung, also zwei auch mit gegenwärtigen politischen und ökonomischen Diskursen eng verschränkte Normalismen. Eine Philologie, die zumindest auch auf Relevanz in der zeitgenössischen Kultur zielt, kann dort ansetzen und sich bei ihrer Analyse auf eine erneuerte, produktions- und rezeptionsästhetisch ausgerichtete Methodologie des Verstehens stützen. Im Bewusstsein für die implizit immer schon wirksamen normativen Dispositive – auch der eigenen Wissenschaft – könnte so in der Entwicklung aktuell relevanter Fragestellungen auch eine Vermittlungsfunktion für unterschiedliche kulturwissenschaftliche Disziplinen eigenommen werden. Mehr