Literarisierungen im Bewegungsmodus des Reisens
JOHANN GEORG KEYSSLERS NEUESTE REISEN (1740)
„Ehe der Rhein zu seinem sehr steilen Schuß kommt, ragen hin und wieder viele Felsen aus dem Grunde hervor. Beym Falle selbst theilt er sich in drey Flüsse, welche durch ihren grünen Grund und ihr schneeweißes Strudeln dem Zuschauer eine angenehme Augenweide, hingegen durch das Brausen seinem Gemühte sowol Bewunderung als Entsetzen verursachen.“ – Nein, diese Passage über den Rheinfall bei Schaffhausen ist kein Ausschnitt aus Wilhelm Heinses vielzitierter Beschreibung in seinem Reisetagebuch von 1780, sondern entwirft eine theatrale Szenerie aus den vierzig Jahre zuvor erschienenen Neuesten Reisen von Johann Georg Keyßler. Diese im 18. Jahrhundert meist rezipierte Reisebeschreibung „durch Deutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen“ entspricht nicht den durch die Literaturwissenschaft konstruierten gattungspoetologischen Standards. Literaturgeschichtlich werden Anschaulichkeit und narrative Vergegenwärtigungen von Rekonstruktionen reisend erfahrener Räume erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verortet. Die seit der Jahrhundertmitte expandierende, umfangreiche Reiseliteratur-Produktion im Geiste der bürgerlichen Bildungsreise verführte dazu, das frühe 18. Jahrhundert und damit die Entstehungszeit der Keyßlerschen Reisen gattungspoetisch als „Vorgeschichte“ des literarisierten Reisens im engeren Sinne und damit auch den Text als nicht literarisch zu betrachten. Als Lehrer und Begleiter auf der aristokratischen Grand Tour vollzieht Keyßler zwar keine „literarische Reise“ im Sinne der bürgerlichen Individuation des Bildungsromans. Aber wie in keinem anderen Bericht dieser Zeit kann hier das vom Modus des Reisens ausgehende Denken der Erzählung, des Entwurfs, der räumlichen Bewegung nachvollzogen werden, das erst viel später – an der vielbeschriebenen Epochenschwelle um 1800 – zum Konstrukt sinnlicher, individueller Erfahrung werden wird.
Ulrike Steierwald:
Bewegte Betrachtung. Zur Literarisierung des Reisens. Vortrag auf dem 25. Germanistentag 2016, 25.-28. September 2016, Bayreuth / Panel: Erfahren, erspüren, empfinden: Techniken der sensuellen Vergegenwärtigung in der Reiseliteratur.
Erschienen in:
Keyßlers Welt. Europa auf Grand Tour, hrsg. von Achatz von Müller, u.a.. Göttingen: Wallstein 2018, S. 229-254.