Joseph Roths Roman „Die Rebellion“ (1924) und die Traumata des Krieges
In: literaturkritik.de, Nr. 3, März 2022, Schwerpunkt II: Krieg und Frieden
In: literaturkritik.de, Nr. 3, März 2022, Schwerpunkt II: Krieg und Frieden
Der Lorbeerkranz – er scheint untrügliches Zeichen eines zu feiernden Sieges. Der transitorische Akt vegetabiler Bekränzung ist seit der griechischen Antike Bestandteil der Festkultur. Jedoch ist jede Verleihung bei aller befestigenden Ehrung zugleich Geste der Überwindung fester Grenzen (bei Toten-, Hochzeits- wie Siegesfeiern) und wird damit zu einem in der europäischen Geschichte wirkmächtigen ambivalenten Sprachbild. In ihrer repräsentativen Zeichenhaftigkeit allein sind die Lorbeer-Ehren nicht zu fassen. In mythologisch-literarischer Tradition erscheinen sie vielmehr in der materiellen Verschränkung von Form und Transformation auch als eine Figuration der Flüchtigkeit. Ihren Formen und Transformationen geht dieser Essay nach. Zu lesen >>>
Inhalt: Bildlichkeit entsteht mit und in jeder begrifflichen Wahrnehmung. Um den Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten der Sprachbildlichkeit nachzugehen, bietet sich heute die dynamische Architektur eines digitalen Thesaurus, eines polydimensionalen „Schatzhauses“, geradezu an. Denn eine lebendige Sprache muss sich in einem nicht zu erschließenden, nicht zu verwertenden Wortschatz entfalten können und wird damit ästhetisch als ein relationales System des Ausdrucksgeschehens nachvollziehbar. Der in diesem Heft programmatisch wie in exemplarischen Darstellungen sich präsentierende Thesaurus ist das Herzstück eines Forschungsprojektes, dessen Architektonik zu einer Art progressiver Universalpoesie werden soll. In ihr erweist sich die potentielle und damit fiktionale Bedeutungspluralität der Sprache auch jenseits syntaktischer oder pragmatischer Kontextualisierung als evident und damit wahrhaftig. Das Thesaurus-Modell setzt die konventionellen Hierarchien zwischen Wissenschaften und Künsten, Faktizität und Fiktion, zwischen Sprache, Bild und Ton außer Kraft und markiert dabei deren Differenzen wie Übergänge umso klarer.
Heft der Zeitschrift figurationen, 19. Jg., Heft 2 2019, hrsg. von Barbara Naumann (Zürich)
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Aus dem Inhalt:
thesaurieren. Bildrelationen im Beziehungssystem der Sprachen. Von Ulrike Steierwald
füllen. Die Fülle, ihre kulturellen Formen und ein Versuch, ihr zu entgegnen. Von Wolfgang Kemp
kippen. Von Lilian Robl
verkörpern. Körper, Zeichen und Listen: Sprache im Werden. Von Yvonne Förster
herzen. Von Nora Gomringer
zuschreiben. (Nicht) An eine Säge denken. Von Anna Degler
modellieren. Die Analogie als Herz der Sprache. Von Ruth Neubauer-Petzoldt
abschweifen. Von Lilian Robl
aufsatteln. Auf den Schultern von Riesen. Von Achatz von Müller
meghalni/sterben. Von Noémi Kiss
„Ehe der Rhein zu seinem sehr steilen Schuß kommt, ragen hin und wieder viele Felsen aus dem Grunde hervor. Beym Falle selbst theilt er sich in drey Flüsse, welche durch ihren grünen Grund und ihr schneeweißes Strudeln dem Zuschauer eine angenehme Augenweide, hingegen durch das Brausen seinem Gemühte sowol Bewunderung als Entsetzen verursachen.“ – Nein, diese Passage über den Rheinfall bei Schaffhausen ist kein Ausschnitt aus Wilhelm Heinses vielzitierter Beschreibung in seinem Reisetagebuch von 1780, sondern entwirft eine theatrale Szenerie aus den vierzig Jahre zuvor erschienenen Neuesten Reisen von Johann Georg Keyßler. Diese im 18. Jahrhundert meist rezipierte Reisebeschreibung „durch Deutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen“ entspricht nicht den durch die Literaturwissenschaft konstruierten gattungspoetologischen Standards. Literaturgeschichtlich werden Anschaulichkeit und narrative Vergegenwärtigungen von Rekonstruktionen reisend erfahrener Räume erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verortet. Die seit der Jahrhundertmitte expandierende, umfangreiche Reiseliteratur-Produktion im Geiste der bürgerlichen Bildungsreise verführte dazu, das frühe 18. Jahrhundert und damit die Entstehungszeit der Keyßlerschen Reisen gattungspoetisch als „Vorgeschichte“ des literarisierten Reisens im engeren Sinne und damit auch den Text als nicht literarisch zu betrachten. Als Lehrer und Begleiter auf der aristokratischen Grand Tour vollzieht Keyßler zwar keine „literarische Reise“ im Sinne der bürgerlichen Individuation des Bildungsromans. Aber wie in keinem anderen Bericht dieser Zeit kann hier das vom Modus des Reisens ausgehende Denken der Erzählung, des Entwurfs, der räumlichen Bewegung nachvollzogen werden, das erst viel später – an der vielbeschriebenen Epochenschwelle um 1800 – zum Konstrukt sinnlicher, individueller Erfahrung werden wird.
Ulrike Steierwald:
Bewegte Betrachtung. Zur Literarisierung des Reisens. Vortrag auf dem 25. Germanistentag 2016, 25.-28. September 2016, Bayreuth / Panel: Erfahren, erspüren, empfinden: Techniken der sensuellen Vergegenwärtigung in der Reiseliteratur.
Erschienen in:
Keyßlers Welt. Europa auf Grand Tour, hrsg. von Achatz von Müller, u.a.. Göttingen: Wallstein 2018, S. 229-254.
Prof. Dr. Ulrike Steierwald
Leuphana Universität Lüneburg
Universitätsallee 1
21335 Lüneburg
Tel. +49 04131-677-2622/2747(Sekr.)
ulrike.steierwald“kringel“leuphana.de